by E.A.S.T. (Essential Autonomous Struggles Transnational)

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Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine haben wir als EAST versucht, unsere politische Initiative auf die neuen Bedingungen politischer Arbeit auszurichten. Der Krieg stellt einen neuen Kontext dar, in dem sich patriarchale Gewalt, rassistische Hierarchien und eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für Arbeiter:innen, Migrant:innen, Frauen und LGBTQI-Menschen weiter zuspitzen. Aus diesem Grund haben wir an der „Permanent Assembly Against the War“ (der ständigen Versammlung gegen den Krieg) teilgenommen. Am 1. Mai 2022 haben wir jeden dazu aufgerufen, gegen den Krieg zu streiken und die üblichen Feiern anlässlich des Tages der Arbeiter:innen zum Anlass zu nehmen, unsere Verbindungen miteinander zu zeigen und eine transnationale Politik des Friedens aufzubauen. Mit Blick auf das nächste Treffen der „Permanent Assembly Against the War“ am 3. Juli 2022 und als Vorbereitung für unser transnationales Treffen in Sofia veröffentlichen wir einen Bericht und eine Reflexion unserer Diskussion über Krieg in der Ukraine und über damit einhergehende Kämpfe um soziale Reproduktion.

Es ist dringend notwendig, die Bedingungen sichtbarzumachen, denen Geflüchtete und Migrant:innen, Frauen, LGBTQI-Menschen und Arbeiter:innen durch den Krieg ausgesetzt sind. Daher ist es von zentraler Bedeutung, einen politischen Standpunkt einzunehmen, der über eine geopolitische Machtanalyse hinausgeht und der den Kampf all derjenigen in den Mittelpunkt stellt, die essentielle Arbeit in Zentral- und Osteuropa leisten. Der Krieg in der Ukraine hat diese bestehenden Bedingungen sozialer Reproduktion unsichtbar gemacht: den Abbau von Sozialleistungen, durch den Frauen die Last sozialer Reproduktion tragen, zuhause und im Ausland; Leihmutterschaft, um verarmende Löhne auszugleichen; Arbeits-, Agrar- und Strafverfolgungsreformen, die die Bedingungen der Arbeiter:innen verschlechtern. Zugleich hat der Krieg in der Ukraine die Jahre neoliberaler Reformen, ein rassistisches Bürger- und Aufenthaltsrecht und geheuchelte Humanität in der EU herausgestellt. Als Feminist:innen haben wir die Aufgabe diese Krise sichtbar zu machen, die durch den Krieg verschärft wurde, so wie es der transnationalen feministischen Bewegung mit der öffentlichen Feststellung und Sichtbarmachung patriarchaler Gewalt gelungen ist.

 Der Krieg spaltet und genau dies ist der Grund, weshalb wir uns als EAST mit den tiefen Widersprüchen auseinandersetzen müssen, die aus dieser neuen vermeintlichen Normalität des Krieges hervorgehen. Wir haben das Problem, auf die lokalen Unterschiede achten zu müssen, die sich gerade in den vormals sozialistischen Staaten als harte Polarisierungen der öffentlichen Debatte niederschlagen. Während beispielsweise einige Länder wie Bulgarien und Serbien massive Mobilisierungen von pro-russischen faschistischen Parteien und von Bewegungen erleben, die Putins Invasion in die Ukraine unterstützen, sehen andere Länder, wie Rumänien, Polen und die baltischen Staaten einer erneuten Stärkung der Nato entgegen, bei der von ihnen erwartet wird, die östliche Flanke im Krieg gegen Putin darzustellen. Diese vermeintlich gegensätzlichen Situationen vereint, dass in ihnen nationalistische und (ultra-)rechte Positionen in den jeweiligen Kontexten gestärkt werden.

Diese Dynamik betrifft soziale Bewegungen, Gewerkschaften und all jene, die nach Wegen suchen, um gegen den Krieg und seine Folgen zu kämpfen. Unsere Aufgabe ist, die Quelle dieser lokalen Unterschiede zu verstehen und einen anderen Diskurs aufzubauen, der über die lokalen Differenzen hinausgeht. Ausgehend von unseren Kämpfen um soziale Reproduktion müssen wir unsere transnationale politische Initiative in lokale Kontexte übersetzen. Der Kapitalismus schreitet durch den Krieg voran und dies stellt sich auf globaler, nationalstaatlicher und alltäglicher Ebene unterschiedlich dar. Mit EAST versuchen wir eine Position zu entwickeln, die auf jeder dieser Ebenen agieren kann. Wir versuchen eine Position zu erarbeiten, die sich dem Krieg in der Ukraine und den vielen Kriegen auf der Welt entgegenstellen kann, deren Auswirkungen in Europa mehr oder weniger spürbar sind.

Krieg und Militarisierung, ökonomische Krise und ökonomische Politik, Kämpfe von Arbeiter:innen und Kämpfe um soziale Reproduktion sind miteinander verbunden. Um diese Komplexität zu durchschauen, möchten wir einige wichtige Punkte herausstellen:

Kritik an Militarisierung und falschen Dichotomien. Wir müssen das Lagerdenken überwinden, das uns dazu zwingt, uns entweder auf die Seite von Putins Regime oder auf diejenige der neoliberalen Demokratien des so genannten „Westen“ zu stellen. Militärausgaben in der Ukraine wie auch in anderen EU-Staaten werden durch eine steigende Arbeitsbelastung von Frauen bezahlt, die in verzweifelten Situationen dafür zuständig sind, das Überleben zu sichern. Die verstärkte militärische Aufrüstung ist ein weiterer Vorwand, mit dem Frauen in ihrer untergeordneten Rolle, in der sie soziale Reproduktion sicherstellen sollen, festgehalten werden. Wir kämpfen für die Freiheit von Frauen und LGBTQI-Menschen in allen Ländern. Wir kämpfen dafür, dass sie nicht dazu gezwungen werden, zu niedrigen Löhnen als Haushaltshilfen, Reinigungskräfte, Kellnerinnen, in Fabriken oder in Logistiklagern zu arbeiten. Wir kämpfen dafür, dass diejenigen, die in ihren Pässen als „Männer“ identifiziert werden, nicht dazu gezwungen werden, sich in militärische Handlungen zu involvieren, verbunden mit dem Verbot, die Ukraine zu verlassen. Nationale Selbstbestimmung ist nicht unser Ziel, wenn es auf die Eingliederung in eine neoliberale Gesellschaft hinausläuft, in der der Lohn und der zu zahlende Preis dafür so ungleich zwischen Geschlechtern, Ethnien und Klassen verteilt sind.

Integration der Ukraine in ein neoliberales europäisches Projekt. In der öffentlichen Debatte wird gesagt, dass die Ukrainer:innen einen Krieg für Europa führen. Aber der Prozess der Integration und die Assoziierung mit der EU bedeuten tatsächlich die Aufwertung der östlichen Peripherien als Reservoir für billige Arbeitskraft, die Beschneidung von Arbeitsrechten, Angriffe auf Tarifverhandlungen und die Prekarisierung von Arbeit und Leben, die Hierarchisierung des europäischen Raums nach dem „Grad des weiß Seins“ und den weiteren Aufbau rassistischer Hierarchien unter Migrant:innen und Geflüchteten nach ihrer Hautfarbe und nach den nationalistischen Interessen der Aufnahmestaaten, was beispielsweise Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem Balkan oder im Mittelmeer sowie Abkommen zwischen der EU und der Türkei verdeutlichen. Unsere Herausforderung ist, nicht in einem Kampf zwischen dem brutalen Autoritarismus Putins auf der einen Seite und dem neoliberalen Projekt der EU auf der anderen Seite zu ersticken. Wir schenken dem fortlaufenden „Kampf gegen die Armen“ Aufmerksamkeit, welcher die Lebensbedingungen prekärer und informeller Arbeiter:innen beschneidet. Wie an vielen anderen Orten auf der Welt und in vorherigen Epochen wird der Krieg für neoliberale Reformen in der Ukraine als Gelegenheit genutzt. Arbeitsmarkt-, und Landwirtschaftsreformen sowie Reformen der Strafverfolgung fügen sich in den Plan eines Wideraufbaues unter „besseren“ neoliberalen Vorzeichen ein. So präsentiert das Zentrum für Economic Policy Research den Wiederaufbau der Ukraine als „einmalige Möglichkeit, um das Land in einer modernen, sicheren eurozentrischen Form“ neu aufzubauen, um die öffentliche Politik und den öffentlichen Raum zu endsowjetisieren  (nicht unähnlich zu den Schocktherapien der 90er-Jahre), wobei es sich vom Wiederaufbau im Nachgang zu anderen militärischen Unterfangen wie den Kriegen im Irak und in Afghanistan inspirieren lässt. Der Wideraufbau nach dem Krieg wird ein Schlachtfeld zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen, Quellen und Formen und Formen öffentlicher Politik sein. Dabei ist nicht nur die EU involviert, sondern auch der IWF wird Mittel bereitstellen, die an neoliberale Bedingungen geknüpft sind. Das weltweite Kapital ist bereits involviert: Immobilien-Investmentfonds erklären auf ihren Plattformen, dass sie den Wiederaufbau unterstützen, während sie sich gleichzeitig billigen Boden in der Ukraine kaufen für zukünftige profitable Entwicklungen im Land.

Die Bedingungen von Migrant:innen werden in Europa und darüber hinaus durch den Krieg neu konfiguriert. In Russland erhielten von einer Million Kriegsflüchtlingen nur wenige (0,2%) einen Aufenthaltsstatus als Kriegsflüchtlinge. Alle anderen mussten sich mit einem anderen unklaren Aufenthaltsstatus auseinandersetzen. Viele Menschen, die durch den Krieg in der Ostukraine vertrieben wurden, wurden gewaltsam nach Russland abgeschoben, wobei auch Ukrainische Kinder von dieser vorgegebenen humanitären Hilfe betroffen waren. Gruppen des Netzwerks EAST wissen von solchen Schwierigkeiten durch vorherige und bestehende Kriege, wie z.B. dem Krieg in Syrien: In der Türkei halten sich beispielsweise 95.000 Geflüchtete mit einem 90-Tage-Visum auf, das ihnen keinen Status als Geflüchtete garantiert. Die Identifikation osteuropäischer Frauen als sexuelle Beute wurde durch die Welle Geflüchteter wiederbelebt und hat die Gewalt gegen diese Frauen gesteigert. In Italien hat der Krieg die Löhne von Migrant:innen weiter verringert. Die meisten von ihnen sind in dem Land seit vielen Jahren und unterstützen jetzt ihre Freund:innen und Verwandten auf der Flucht. Institutioneller Rassismus trifft bereits ukrainische Geflüchtete in Form erpresserischer Arbeitsverhältnisse, welche ihre Aufenthaltsmöglichkeiten an Arbeitsverträge binden. Geflüchtete werden durch das neoliberale Regime der EU gegeneinander ausgespielt, im Wettbewerb um Arbeit zueinander in Konkurrenz gesetzt, um schließlich prekär entlohnt zu werden und die Chance auf einen Aufenthaltsstatus zu erhalten. In Italien bestehen große Schwierigkeiten für nicht EU-Bürger:innen ein Visum zu erhalten. Dies ist langen Wartelisten geschuldet. Die freien Termine für die Visa-Büros sind nun für ukrainische Geflüchtete reserviert und – wenn man kein:e Ukrainer:in ist, nur mit sehr teuren Terminen verbunden. In Verbindung damit werden Rassismus und neue Hierarchien unter prekarisierten Gruppen verstärkt – beispielsweise gegenüber Roma. In Bulgarien wurden Geflüchtete in Hotels untergebracht, wobei die Besitzer:innen dafür öffentliche Gelder erhalten haben. Diese öffentliche Hilfe wurde nur bis zum 31. Mai 2022 geplant, weshalb die Situation jetzt chaotisch ist: Menschen werden nun in Resorts des Wintertourismus untergebracht, die anders als die Hotels am Meer, weit weg von Gesundheitsversorgung und einer Versorgung für Kinder sind. Zudem sind dort die Möglichkeiten eine Arbeit zu finden sehr begrenzt. Andere Geflüchtete werden direkt in den Flüchtlingslagern untergebracht, mit deren schlechten Zuständen syrische, afghanische und nordafrikanische Geflüchtete bereits in den vergangenen Jahren zu kämpfen hatten. Manche Geflüchtete werden auf sich allein gestellt und müssen ohne eine Unterbringung irgendwie überleben. Deswegen ist gegenwärtig die Zahl der Ukrainer:innen, die Bulgarien verlassen, um in die Ukraine zurückzukehren, höher als die der Ukrainer:innen, die in Bulgarien neu Asyl suchen. In anderen Ländern, wie etwa Tschechien, gibt es keinen Plan für eine Flüchtlingshilfe, sodass manche Geflüchteten aus Mangel an Alternativen zurückkehren. Aber nicht alle werden gehen und es wird den großen Bedarf geben, sich langfristig mit Migrant:innen für die Freiheit aller Menschen auf der Flucht zu engagieren.

Löhne, Energiepreise, eine ökologische Krise. Eine hohe Inflation hat den Zwang zur Arbeit verschärft. Millionen von Menschen auf der Welt, vor allem in globalen Süden, riskieren Hungersnöte wegen der Spekulation mit Nahrungsmittel- und Energiepreisen. In Russland hat der Krieg schon vor der Invasion zahlreiche Kürzungen verursacht, etwa im Bildungssystem und der Gesundheitsversorgung. Für die Menschen in Osteuropa und den Balkanländern hat der Krieg schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Sie sind zwischen den widerstreitenden Mächten (Russland, NATO, EU) und den Ansprüchen des Kapitals, durch den Krieg weiterhin Profite erzielen zu wollen, gefangen. In der Praxis bedeutet dies: die Knappheit von Gas, überteuerte Preise für Produkte des täglichen Bedarfs und weitere Limitierungen von Mobilität nach einer Pandemie, die diese ohnehin bereits für Migrant:innen erschwert hat. Die Ukraine ist für Russland wichtig als Transitroute für Gasexporte. Gleichzeitig ist die Möglichkeit des Westens auf Putin zu antworten durch die europäische Abhängigkeit von fossilen Energieträgern eingeschränkt. Statt sich von einer fossilen Energiegewinnung wegzubewegen, nutzt die fossile Energiewirtschaft den Krieg, um eine verstärkte Förderung zu fordern und dabei in größerem Maß als bisher auf Verfahren zurückzugreifen, die für die Umwelt gefährlich sind (z.B. Hydraulic Fracturing für Schiefergas oder experimentelle Kernkraftwerke). Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu umgehen, würde bedeuten, einige weitere Abhängigkeiten unterlaufen: diejenige von der russischen Aggression in der Ukraine, wie auch diejenige von anderen ressourcenreichen Staaten, wie Saudi-Arabien, dessen ausgeübte Gewalt auf Grund seiner starken Position als Ölexporteur ohne Sanktionen bleibt, oder diejenige von Siedlerkolonialstaaten wie Kanada oder den USA, die die Ausbeutung von Ressourcen mit der Vertreibung und Enteignung indigener Völker vorantreiben. Letztlich werden die negativen Folgen von Ressourcenausbeutung und Klimawandel von armen und enteigneten Gemeinschaften getragen und weltweit von Frauen geschultert. Die Beschleunigung einer grünen Transformation, die die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern stoppt und den Klimawandel händelt, ist insgesamt eine Frage der Arbeiter:innenklasse. Dafür müssen diese Schritte von substanziellen politischen Maßnahmen begleitet werden, die die sozioökonomischen Kosten lindern.

Diese schwierigen Bedingungen stellen uns vor die Herausforderung, eine politische Kommunikation zwischen all denen herzustellen, die die unmittelbaren Folgen des Krieges spüren, in der Ukraine, wo der Krieg nicht nur Massenmorde und Vergewaltigungen bedeutet, sondern auch von der Regierung instrumentalisiert wird, um eine Arbeitsmarktreform stillschweigend durchzusetzen; an den Grenzen und in den Aufnahmestaaten, wo neue Hierarchien zwischen Migrant:innen aufgestellt werden; auf dem EU Arbeitsmarkt, wo Arbeiter:innen gedrängt werden, militärische Ausrüstung herzustellen, die benutzt werden wird, um andere Menschen zu töten und einer „Verteidigungsindustrie“ hohe Profite einbringen wird; an den Arbeitsplätzen und im Alltag, wo hohe Preise niedrige Löhne und geringere Geldsendungen in die Heimatländer bedeuten und wo langjährige Migrant:innen die Last tragen, Familie und Freunde aus den Kriegsgebieten willkommen zu heißen.